DER MARKTGERECHTE MENSCH

- Wie die Lemminge -
DER MARKTGERECHTE MENSCH


Deutschland 2020
Genre: Dokumentation
Länge: 100 Min.
Autor: Herdolor Lorenz
Regie: Leslie Franke, Herdolor Lorenz
Kamera: Hermann Lorenz, Stefan Corinth, Felix Nasser, Severin Renke, Christophe Orcand, Edie Lacoine, Carmine Grimaldi
Schnitt: H. Lorenz / L. Franke
Musik: Hinrich Dageför, Stefan Wulff

Was ist der Mensch, worin besteht sein Wert? Heute gilt mehr denn je: er muss etwas gelten, auf dem Arbeitsmarkt und im sozialen Gefüge, live und online - sonst geht er vor die Hunde. Und da das Fressen vor der Moral kommt, widmet sich diese Doku an erster Stelle dem Arbeitsmarkt. Dabei bedient sich das Macher-Duo etlicher Interviewsequenzen, die mal fachlich-wissenschaftlich, mal sehr persönlich-intim sind: Theorien, Studien und Erlebnisberichte Betroffener. So entsteht ein komplexes filmisches Mosaik, das uns allzu deutlich vor Augen führt, wo wir gerade stehen.

Die Atomisierung von Arbeit - parallel arbeitende Einzelkämpfer, gesteuert von Algorithmen - beispielsweise im Textilverkauf oder bei Fahrradkurieren - forciert beinahe zwangsläufig eine Ellbogenmentalität innerhalb jener Branchen, wo auch nur ein kurzzeitiger Ausfall sogleich mit weniger Aufträgen, einem schlechteren Status quittiert wird. Hier ein oder mehrere Kinder zu haben, führt unweigerlich zu einer schlechteren Auftragslage, weil maximale Flexibilität belohnt wird (Stichwort Flex-Verträge). Keine Überraschung, dass hier sämtliche Lohnnebenkosten auf die eh schon prekär arbeitenden Menschen geschoben wird.

An Universitäten bekommen Lehrende oft nur noch zeitlich auf höchstens zwei Jahre begrenzte Verträge, so dass eine Zukunft für sie kaum planbar ist. Auch hier sind die Vergütungen oftmals prekär!
Langjährige MitarbeiterInnen erfolgreicher Betriebe werden erst unter maximalem Leistungsdruck während vieler Jahre an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht, um sie kurz danach aus Rentibilitätsgründen zu entlassen und sie damit zudem ihrer beruflichen "Familie" zu berauben. Ein Trauma!

Online Arbeitende in der so genannten Crowd (z.B. daheim Schreibende) werden permanent kontrolliert und überwacht, etwa über ihre Anschläge pro Minute oder regelmäßige Screenshots über ihren Rechner. Maximale "Freiheit", maximales Ausgeliefertsein.

Markenfirmen wie T. Hilfiger, Boss, Calvin Klein usw. outsourcen ihre Näharbeiten in Billiglohnländer, beispielsweise nach Äthiopien, wo erwartet wird, dass sieben Tage die Woche zwölf Stunden lang gearbeitet, keine Pause gemacht wird inclusive dem Verzicht auf einen Toilettenbesuch. Und das für einen Lohn, der ein Fünftel des Existenzminimums ausmacht. Wir, die wir im Vorbeigehen eine Klamotte von Hilfiger & Co kaufen, unterstützen diese Politik gemeinschaftlich und effektiv. Ob es uns bewusst ist oder nicht, wir haben Teil an der Ausbeutung.

Und auf dem Liebes- und Beziehungsmarkt sieht es kaum anders aus: Fitness ist oberstes Gebot, und auch hier profitieren Menschen von der Bewertung, und zwar jener, die sie einander online auf Fitness-Plattformen geben. Fitness als Voraussetzung für einen hohen "Marktwert" im Beziehungs- und Sexleben sowie die psychische Belastbarkeit auf dem prekären Arbeitsmarkt.

Und so kommt es, dass die psychischen Erkrankungen ob der Macht dieses ausbeuterischen Systems immer weiter zunehmen.

Doch "Der marktgerechte Mensch" bringt mehr: nämlich Alternativen. Die Doku zeigt an aktuellen Beispielen, dass es möglich ist, sich zu solidarisieren und nachhaltig, human und gerecht Arbeit zu leisten, mit Würde und - lese und staune! - Freude.

Diese Doku gehört für mich schon jetzt zu den besten Filmen 2020 und sei hiermit dringend empfohlen.

cnm

Hervorragend passt hierzu der kommende Spielfilm von  Ken Loach, "Sorry we missed you", Kinostart am 30.1.2020

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